Vira – auf der Suche nach ihr

Kurzgeschichte

April 2020 / April 2021 – René Reichel

„Irgendwo muss sie doch sein, verdammt noch mal,“ hörte er sich schimpfen. Er hörte nur sich selbst, aber er wusste, alle dachten so. Alle, inzwischen waren es Tausende, was heißt Tausende? Noch viel mehr. Sie waren auf der Suche nach ihr, alle waren auf der Suche nach ihr, sie waren schon lange auf der Suche nach ihr: der Königin. Irgendwann war es soweit gewesen, dass sich die ersten auf den Weg gemacht hatten, dann wurden es mehr. Irgendwo in einem Flugzeug war auch er dazu gekommen, mit seiner ganzen Familie. Die Menschen hatten es ihnen nicht schwer gemacht, auf die Suche zu gehen und dabei immer mehr zu werden. Zuerst dachte er, die Menschen wollten ihnen bei der Suche nach ihr helfen, sie boten sich ja geradezu an. Aber dann – durch die Erzählungen anderer – kamen sie miteinander drauf, dass viele Menschen versuchten, ihre Suche zu unterbrechen. Wir sind denen zu viele, dachte er. Und das verstehe ich ja, auch wir hatten das einmal, als diese grässlichen Quietschen uns überfielen. Viele von uns waren damals gestorben, dabei waren die noch viel kleiner gewesen. Traurigkeit überfiel ihn, als er daran dachte, aber nur kurz.

Irgendwann war es dann vorbei, aber wir brauchten lange, um uns davon zu erholen. Ja, und jetzt sterben ein paar Menschen wegen uns, obwohl auch wir so viel kleiner sind. Irgendwie schade, da war er sich einig mit seinen Brüdern und Schwestern (waren sie überhaupt seine Geschwister? Er wusste es nicht genau, aber es war ihm auch egal). Ja, Sterben, was soll man machen? Wir brauchen diese Menschen als Stationen auf unserer Suche. Und es sterben ja nur ein paar. Dabei waren sie sich gar nicht so sicher, ob sie die Gesuchte erkennen würden. Ja, einige waren sich schon sehr sicher, sie spielten sich auf, diese Experten, aber eigentlich wussten die es auch nicht genauer. Sie wussten ja eigentlich nur ihren Namen – Vira – und dass sie die Königin war. Und dass es jetzt eine Lebensaufgabe war, diese Königin zu suchen. Ein paar Mal hatten sie schon geglaubt, sie gefunden zu haben, aber dann stellte sich heraus, dass es nur eine Mutation war, die durch irgendeine Spielerei – oder war es eine Dummheit? – der Menschen entstanden war. Überhaupt kannte man sich schon gar nicht mehr aus, wer alles zum eigenen Volk gehörte. Jedenfalls nix Königin. Es war zum Verzweifeln.

Manchmal trafen sich welche und erzählten von ihren Erlebnissen. Einmal trafen sie sich in einem Haus, in dem viele gestorben waren. Da erzählten sie von Brüdern und Schwestern, die mit Menschen mitgestorben waren, weil die verbrannt wurden. Andere erzählten so, als wären sie auf einer Weltreise gewesen – von Mensch zu Mensch, in warme und in kalte Länder. Manche hätten sogar wieder Tiere als Stationen benutzt. Andere wiederum erzählten, dass Menschen in weißen Kleidern in weißen Räumen an Waffen bastelten, um gegen uns zu kämpfen. Vielleicht, so meinten sie, würde also die Zeit knapp für die Suche. Andere Menschen, so hieß es, bastelten Dinge, die irgendwie so aussahen wie wir, nur viel größer, unsere Fühler schauten dabei aus wie Stacheln, irgendwie blöd. Diese Dinge schenkten sie dann kleinen Menschen, und die spielten damit. Komisch: die einen fürchten sich vor uns und basteln Waffen gegen uns, andere spielen mit großen Ebenbildern von uns. Wenn man über die Menschen nachdachte, konnte man glatt vergessen, welche Aufgabe man zu erfüllen hatte.

Ja, und plötzlich hieß es: Wir haben sie! Es war nicht leicht, Genaueres zu erfahren, aber schließlich machte es Runde. Natürlich veränderte sich die Geschichte durchs Weitererzählen, aber ungefähr so soll es gewesen sein: In einer Höhle in den Bergen – wo bisher noch niemand von uns gewesen war – soll ein kleiner Mensch, also ein Kind, eine verletzte Fledermaus gefunden und sie dann nach Hause mitgenommen haben, um sie dort gesund zu pflegen. Dabei wuchs der Fledermaus eine Beule auf der Stirn, ganz merkwürdig. Eines Tages, als das Kind die Fledermaus voller Sorge genauer anschaute, kam es ihr so nahe, dass sein Atem das Gesicht der Fledermaus und die Beule erreichte. Und da soll es geschehen sein: Ganz langsam öffnete sich die Beule und heraus kam sie: Vira, die Königin der Viren. Es gab keinen Zweifel. Da entstand zunächst eine große Verwirrung, denn was sollten sie jetzt tun, wo doch die Aufgabe erfüllt war? Jedenfalls erklärte die Königin die Suche für beendet, und wir alle kehrten heim. Die Menschen spürten zunächst nichts mehr von uns; nur das Spielzeug, das so aussah wie wir, die Viren, das gab es noch eine Zeitlang.