Der Terror der Ängstlichen

René Reichel

Zunächst sind Gefühle immer „richtig“. Oft lauert aber hinter einem vordergründig ausgedrückten Gefühl etwas anderes; z.B. Panik oder Enttäuschung hinter der Wut; Vorwurf hinter der Traurigkeit; Aggression und Beschuldigung hinter der Ängstlichkeit. Manchmal ist das Dahinterliegende schwer zu erkennen, aber man spürt es irgendwie, und in der Reaktion darauf entsteht ein mulmiges Gefühl, weil man nicht weiß, wie eine angemessene Reaktion darauf aussehen könnte. Ein hinter einem Gefühl liegendes Gefühl ist vor allem dann schwer zu erkennen, wenn das vordergründige Gefühl entweder sehr heftig ist, wie bei Aggression, oder wenn es Hemmungen auslöst, wie bei Angst. Die Angst eines Menschen zu hinterfragen, ist nur in der Form der Bagatellisierung üblich, also: „Da musst du doch keine Angst haben!“ Unüblich ist der Verdacht, dass hinter der Angst manchmal noch ein anderes Gefühl stecken könnte, nämlich Aggression und Beschuldigung, meist mit dem Ziel, Macht und Kontrolle auszuüben.

Beispiel: Eltern beobachten ihr Kind. Vater lässt das Kind auf einer Mauer balancieren, die Mutter reagiert: „Nimm sie da runter! Was ist, wenn sie runterfällt!“ … Eigentlich geht es um ihre Angst, zum Ausdruck aber kommen Vorwurf und Verunsicherung, die sich auf Vater und Kind übertragen. Das Beispiel lässt sich natürlich auch umkehren, derzeit sind es aber wohl mehrheitlich die Mütter, die in einer solchen Mischform reagieren.

Wie geht die Geschichte weiter? Das Kind ist verunsichert, weil der Papa es ermutigt, die Mama aber ängstlich vorwurfsvoll reagiert. Der Mann ist verwirrt, denn er freut sich, dass sein Kind sich etwas traut, fühlt sich aber auch seiner Frau gegenüber verpflichtet, wenn sie Angst hat. Gleichzeitig aber ärgert er sich über den verdeckten Vorwurf der Verantwortgslosigkeit. Es entstehen also gemischte Gefühle und Unsicherheit. Die Folge ist eine Verringerung der Aufmerksamkeit beim Kind und beim Vater auf das, was gerade auf der Mauer geschieht. Das Kind könnte genau deswegen herunterfallen, weil es zu dieser Verunsicherung kam. Der Vater ist hin- und hergerissen und nicht mehr im aufmerksamen Kontakt mit dem Kind, könnte also evtl. das Kind nicht rechtzeitig auffangen. Die Prophezeiung hätte sich dann erfüllt.

Das Unglück passiert also – wenn es passiert – vor allem durch die Verwirrung, die der ängstliche Elternteil erzeugt hat.

Das ganze Problem wird dadurch verstärkt, dass Angst ein Gefühl ist, dass schwer zu kritisieren ist. Wer Angst hat, hat ja irgendwie Recht, so wird es empfunden.

Das nenne ich den „Terror der Ängstlichen“.

Inzwischen hat im Zeitalter von Corona das hier beschriebene Thema an Schärfe zugelegt. Die Unsicherheiten rund um diese Pandemie hat alle psychosziale Labilitäten, die es schon bisher gab, zusätzlich verschärft, so auch die Ängstlichkeit. Um den vorher beschriebenen Unterschied zu verdeutlichen, verwende ich hier den Ausdruck „Ängstlichkeit“ für die zwiespältige, mit anderen Gefühlen und verdeckten Interessen vermischte Ausdrucksform, während „Angst“ oder „Sorge“ hier das berechtigte Gefühle bezeichnet.

Kindern wird gesagt: „Wenn du deine Oma umarmst, kann sie sterben!“ – ein leider mehrfach gehörtes Zitat. Kinder, die sich beim Nasenbohrtest verweigern oder ungeschickt anstellen, werden bloßgestellt und stigmatisiert. Und all das mit dem Argument der Sorge um die Gesundheit.

Wenn Menschen so darauf reagieren, dass sie Verständnis für die Sorge zeigen, so tappen sie bereits in die Falle der hier zum Ausdruck kommenden Manipulation. Verständnis für Ängstlichkeitsterror verstärkt nur den Terror, verringert aber keine – echte – Angst. Es scheint eine wichtige Aufgabe zu sein, sich zu immunisieren gegen jede Form von unterschwelligem und manipulativem Druck, bei dem mit vorgeschobener Sorge Macht ausgeübt werden soll. Das ist politisch gesehen nicht neu: Immer schon wurde Angst vor bestimmten Bevölkerungsgruppe geschürt, um besser Macht ausüben zu können: Die Heiden, die Juden, die Kommunisten, die Zigeuner, die Fremden, etc. Das ist auch ziemlich auffällig. Weniger auffällig ist dieser Mechanismus im Kleinen, im Privaten, wenn das Machtinteresse sich selbst das Gesicht der Angst – besser der Ängatlichkeit – oder manchmal auch der Fürsorge – „ich mein’s ja nur gut!“ – zulegt.

In den meisten Fällen werden die Menschen, die mithilfe von Ängstlichkeit Macht und Kontrolle gewinnen wollen, selbst einmal Opfer solcher Strategie gewesen sein, dafür brauch sie zunächst auch Verständnis. Man darf aber dabei nicht stehenbleiben, will man nicht die Manipulation belohnen und verstärken. Der Änstlichkeitsterror sollte nicht gewinnen. Dazu braucht es die schwierige Differenzierung zwischen real gut begründbarer Vorsicht und verdeckten Machtansprüchen. Manche flüchten sich dabei in das andere Extrem, in die Bagatellisierung von Gefahr. Auch dahinter stecken häufig eigennützige Motive.

Wie schwer das alles ist, zeigt sich in den Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie.

April 2021