Flucht und Integration

Auguste & René Reichel

April 2016, Jänner 2021

 

  1. Sprache schafft Fakten, auch Sprechen ist Handeln, Diskriminierung durch Sprache ist heute allgegenwärtig; daher ist eine Stellungnahme zur Verwendung des Begriffs „Integration“ notwendig.
  2. Als Vertreter/in eines bio-psycho-sozial-ökologischen Menschenbilds ist für uns die Flüchtlingsproblematik[1] aus dieser mehrdimensionalen Perspektive zu sehen, zu bewerten und zu behandeln. Dazu braucht es Expertisen.

Diese beiden Ziele sollen hier verfolgt werden.

Das Verschiedene, Divergente ist das Gegebene, das Normale in dieser Welt. Homogenität ist eine jeweils zeitbegrenzte Sonderform des Seins. Vielfalt bestimmt das Wesen und die Qualität des Lebens. Das wird beispielhaft daran erkennbar, dass einseitige Kost selbst dann, wenn sie aus gesunden Elementen besteht, auf Dauer ungesund ist. Daher ist jede Vorstellung einer homogenen Ganzheit im menschlichen Zusammenleben eine Bedrohung der menschlichen Gesundheit. Begriffe wie Rassenreinheit oder auch völkische Einheit u.a. sind als schädlich und lebensbedrohend zu betrachten, wie das ja auch aus den Erfahrungen mit landwirtschaftlichen Monokulturen inzwischen deutlich wurde.

Auf diesem Hintergrund kann Integration als Prozess oder Summe von Prozessen verstanden werden, die jeweils aus konstruktiver Begegnung von Unterschieden entstehen. Falsch und missbräuchlich ist die Verwendung des Begriffs Integration dort, wo (einseitige) Anpassung gemeint ist, wie es heute verbreitet üblich ist. Es ist auch unintelligent, wenn bei uns jemand mittags nur über die notwendigen Anpassungsleistungen etwa von TürkInnen redet und sich dann einen Kaffee bestellt, der bekanntlich ein Integrationsergebnis ist. Prinzipiell ist also Integration ein wechselseitiger Prozess, wobei durchaus bei ganz bestimmten Aspekten und Themen mehr Anpassung von einer Seite an die andere erforderlich sein kann.

Integration bei Menschen braucht – neben den geeigneten Rahmenbedingungen – Integrationswillen. Integrationswilligkeit wie -unwilligkeit ist dynamisch schwankend, das gilt für alle Beteiligten. Integrationsunwilligkeit auf Seiten der Mehrheitsbevölkerung (ÖsterreicherInnen) ist kein geringeres Problem als Integrationsunwilligkeit auf Seiten von Zuwanderern und Geflüchteten.

Integration erfordert emotionale, soziale Intelligenz und ist eine enorme Herausforderung für die Gesellschaft. Politik alleine schafft es nicht, es braucht die Zivilgesellschaft.

 

Aus bio-psycho-sozial-ökologischer Perspektive ist Integration zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen für uns alle überlebenswichtig:

Biologisch:

Evolutionsbiologisch ist die menschliche Entwicklung nur über Vielfalt und Mobilität möglich geworden. Wären die „Arten“ unter sich geblieben, hätten sie sich nicht auf den Weg gemacht, dann säßen wir noch auf den Bäumen. Die Gehirnentwicklung zeigt dies an: wir können voraus denken, planen und kreative Lebensformen entwickeln. Die Verhaltenssteuerung durch das älteste Gehirn, dem Stammhirn, ist überlebensnotwendig, wir schützen uns damit vor Gefahren. Allerdings reagieren manche Menschen unreflektiert und bewerten mit dem „alten Gehirn“ Fremdes als grundsätzlich gefährlich, machen Fremde zu Feinden usw. Unsere Gehirnkapazität umfasst noch andere Bereiche, intelligente und emotionale, die bewerten und kritisch fragen können, ob man vor einem „schwarzen Mann“ davon laufen muss, wie ein altes Kinderspiel anregt. Evolutionsbiologische Weiterentwicklung heißt, das Fremde wahrzunehmen, anzunehmen und als Möglichkeit für die menschliche Weiterentwicklung zu integrieren.

Schon der konservative Grillparzer hat sich in seiner Komödie „Weh dem, der lügt“ über die degenerierten Ergebnisse aristokratischer Inzucht amüsiert, und über die genetischen Entwicklungen in einzelnen Alpentälern gibt es auch einschlägige Dokumente. Multikulturelle Integration hat einst die Entwicklung der USA zur führenden Wirtschaftsmacht ermöglicht, und aus Kreuzungen haben sich eigenständige starke Pflanzen entwickelt.

Psychisch:

Persönliche Weiterentwicklung geschieht über Neugier. „Neugier ist stärker als Angst“, das trifft dort zu, wo es um die Überschreitung von Grenzen geht, um Kreativität und Fortbewegung. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. So haben Geflüchtete aus Not viele Grenzen überschritten, und sie verdienen unseren Respekt. Den Mut für das Neue lernt man als Kind und dieser Mut wächst weiter, wenn Vertrauen ins Neue unterstützt wird. Da können wir Manches von den Geflüchteten lernen.

Bei Kindern ohne starke Fremdbeeinflussung lässt sich beobachten, wie unbefangen und neugierig sie mit Fremdem umgehen. Ihre Scheu ist bei Menschen mit völlig anderem Aussehen nicht oder kaum größer als bei Menschen, die ihren Eltern ähnlich sehen. In wiederholten Studien zeigt sich, dass die Abneigung gegenüber Fremden dort am größten ist, wo kein oder sehr wenig Kontakt zu solchen Fremden besteht. Ein gewisses Maß an Unsicherheit in der Begegnung mit „Fremden“ ist allerdings als Herausforderung zu betrachten und anzunehmen. Die heutzutage laufend beschworene „Angst in der Bevölkerung“ ist allerdings eine nur sehr oberflächlich sitzende und zum Teil nur herbeigeredete Angst. Wie viele Probleme wir allerdings dadurch produzieren, dass wir umgekehrt Angst und – berechtigte – Wut bei Geflüchteten erzeugen oder verstärken, wird meist übersehen.

Sozial:

Wenn man in Paris oder London U-Bahn fährt, fühlt man sich als „Weißer“ fremd. Wenn kopftuchtragende Frauen zu einem Feuerwehrheurigen gehen, fühlen sie sich fremd. Wenn anzugtragende Männer in eine Jugenddisco gehen, fühlen die sich fremd. Die Frage der Fremdheit ist getragen vom Kontext und ist relational. Fremd ist man in Bezug zur unvertrauten Mitwelt. Menschen, die nur unter sich bleiben, bekommen auch ein eingeengtes Weltbild. Das trifft auch auf Migranten zu, die nur in ihrem sozialen Umfeld, im Ghetto bleiben und sich nicht „hinauswagen“. Touristen in abgeschotteten Clubs in einem fremden Land lernen nichts vom Land kennen. Offenheit und Interesse sind soziale und emotionale Lernvoraussetzungen.

Multikulturell sind wir „eingeborene“ ÖsterreicherInnen auch selbst, auch ohne „Ausländer“. Dass Menschen gerne „unter sich“ sind, ist normal und kein Merkmal von Zugewanderten. Ob sich dadurch fallweise eine integrationsbedrohende „Parallelgesellschaft“ entwickelt, wie es in österreichischen rechtsextremen Kreisen ebenso wie in islamistischen Kreisen vorkommt, darauf muss von Fall zu Fall reagiert werden. Was fehlt, sind integrationserleichternde Strukturen und Maßnahmen, das ist genau so beim Thema Flucht zu fordern wie beim Thema „Kinderarmut“ oder „Beschäftigung von Behinderten“. Das sind gesellschaftliche Aufgaben und keine für Spendenaktionen.

Ökologisch:

Mit ökologisch ist hier der Gesamtzusammenhang von Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt gemeint. Die Globalisierung überschreitet wirtschaftliche Grenzen in einem bisher nicht bekannten Maß. Wir leben von billigen Arbeitskräften in Südasien und anderen Billiglohnländern. Die Waffenindustrie des Westens liefert in aktuelle und potentielle Kriegsgebiete und macht große Gewinne. Kriege werden erst durch Waffen möglich. Was wäre, wenn diese Einnahmequelle verboten wäre?

Afrika trocknet aus, Menschen hungern… sie hören von unseren reichen und satten Ländern. Wer in dieser Lage würde nicht fliehen, wenn bekannt wird, dass es irgendwo Überfluss gibt? Teilen ist Integration und ist für alle überlebensnotwendig.

Die Integrative Therapie nennt als einen Heilfaktor Solidarität. Diese Fähigkeit ist auch evolutionsbiologisch entwickelt. Zusammenarbeit, Kooperation und Kommunikation ist mehr am Überleben beteiligt als Kriege und Zerstörung.

Klar ist, dass unsere Wirtschaft und unser Rentensystem ohne Zuwanderung nicht weiter bestehen könnte. Das wird von führenden Wirtschaftstreibenden schon seit sehr vielen Jahren wiederholt. Ebenso klar ist, dass unsere mitteleuropäische Wirtschaft nicht mehr auf der Basis von Großunternehmen wachsen kann. Klein- und Mittelbetriebe haben mehr Zukunft. Genau dazu sind Zuwanderer offenbar mehr bereit und fähig. Integration ist also auch eine Überlebensfrage für die wirtschaftliche Zukunft unserer Kinder und Enkel_innen.

In der konkreten Umsetzung von Integration ergeben sich zahlreiche, auch große Probleme. Es macht einen Unterschied, ob diese Probleme auf der hier oben erläuterten Basis notwendiger und wertvoller Integration behandelt werden, oder ob die Probleme dazu benutzt werden, die Voraussetzungen von Integration, nämlich den Zuzug von zunächst fremden Menschen, zu boykottieren.

Wir sind der Überzeugung, dass es möglich ist, die Probleme der Integration als Teil der Lösung zu sehen und sie zu bewältigen. „Wir schaffen das“ (Angela Merkel) und beteiligen uns an verschiedenen Projekten zur Integration.

 

[1] Wir ersetzen jetzt das Wort Flüchtling durch das Wort Geflüchtete, da die Endsilbe -ling in unserer Sprache häufig eine gewisse Geringschätzung oder Verkleinerung enthält.